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gesichtet #128: Der Hausgeist Carmen verlässt das «aufstrebende Hip-Quartier»
Der Bagger ist bereits am Werk. Dabei wird der Innenhof tüchtig umgekrempelt, die Scheune hat’s soeben erwischt. Die vordere Fassade der Villa Carmen steht zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Zeilen noch. «Abgerissen!» ist aber vorsorglich schon mal hingesprayt.
Villa Carmen? Zu seinem Kosenamen kam das Haus an der Vogesenstrasse 23 dank seiner letzten Bewohnerschaft. Bis vor ein paar Monaten hauste in der Liegenschaft im Basler St. Johann-Quartier nämlich noch eine WG. «Getauft haben wir das Haus zu Ehren unserer lieben Carmen», sagt einer der ehemaligen Bewohner. Es sei eine Art Hausgeist oder Matrone, die über den Leuten wachte. Inspiration dafür war ein eingerahmtes Bild von 1974 einer älteren Frau mit ziemlich offensichtlicher Perücke. Der besagte Bewohner hat das Bild in einer alten Kommode gefunden. Schon bald wurde Carmen zum Running Gag in der WG: «Es gab dort eine Wand mit ihrem Stammbaum – unter ihnen Monica Bellucci und der Erfinder der Bündner Nusstorte», erinnert er sich.
Die WG lud stets auch unter dem Namen Villa Carmen zu ihren Partys ein. Damit ist nun aber Schluss: Zwei Investoren aus einem Basler Familienunternehmen haben die Parzelle gekauft. 32 Eigentumswohnungen sind geplant. Daher hat es das Haus auch in den Basler Abrisskalender 2016 geschafft. Wie dort zu lesen ist, sollen die neun Zimmer das Haus über lange Zeit den 95 Jahre alten früheren Besitzer beherbergt haben. Zwei junge Familien richteten später das Haus neu ein. In der Holzscheune im Innenhof fertigten sie Rucksäcke an und auch auch ein Maler hatte dort während 15 Jahren sein Atelier. Auch das Pataphysische Institut Basel hielt bei der Villa Carmen Einzug. Dieses erforscht die Wissenschaft für imaginäre Lösungen. Seit anfangs Jahr ist es an der Socinstrasse zuhause.
Das ist nun alles Geschichte: Unter dem Namen Johannshof soll ein Neubau an der Vogesenstrasse entstehen. Beim Vordergebäude soll auch eine Einstellhalle mit 42 Parkplätze gebaut werden. Diejenigen Wohnungen, die zurzeit noch nicht vergeben sind, kosten zwischen 640’000 und 940’000 Franken. Wie auch schon bei der alten Poststelle gleich ein paar Strassen weiter weichen auch in diesem Teil des St. Johann-Quartiers einfache Wohnungen teuren Mietobjekten. Aufschlussreich ist dazu der Text auf der Website des Johannshof. Unter dem Begriff «Standortqualität» werden die Vorzüge des Quartiers aufgeführt:
„Zurzeit laufen einige städtebauliche Veränderungen, welche zur weiteren Aufwertung des Quartiers beitragen werden (um den Bahnhof St. Johann, Umnutzung des Hafenareals etc. sowie private Investitionen wie beispielsweise der Novartis Campus). Insgesamt hat das Quartier in den letzten Jahren eine deutliche Qualitätsverbesserung erfahren und wurde zum aufstrebenden Hip-Quartier, das auch viele Menschen aus der Pharmabranche und von der Universität anzog. Die Vogesenstrasse zählt derzeit zu den aufstrebenden Wohnadressen […]“
So treffend und ehrlich könnten nicht einmal die unbekannten Sprayer die Entwicklung im Quartier beschreiben. Für wen die Neubauten gedacht sind und wie man sich hier das ideale Santihans vorstellt, wird hier deutlich. «Qualitätsverbesserung» gilt schliesslich nicht für alle: Ein Hausgeist wie Carmen hätte im «aufstrebenden Hip-Quartier» wohl keinen Platz mehr.