Wie es mit der Häuserzeile weitergeht, ist noch offen: Sowohl die Eigentümerin Helvetia wie auch der Mieterverband verbuchen einen Teilerfolg und wollen den jüngsten Entscheid der Baurekurskommission anfechten. Zudem erheben die Nachbarn aus Haus Nummer 36 Vorwürfe an den Versicherungskonzern: Dieser lasse wertvollen Wohnraum ungenutzt und setze die Mieter unter Druck.
Es waren Welten, die im Hinterhof der alten Liegenschaft aufeinanderprallten: Der Anwalt der Eigentümerin höhnte über den aus seiner Sicht «ungepflegten Zustand» des Gartens und des Kellers. «Das ist ein privater Raum und kein Ikea-Geschäft», entgegnete ihm darauf eine Bewohnerin. Zu solchen Szenen kam es am 31. August bei der Augenscheinverhandlung der Baurekurskommission (BRK) am Steinengraben 30 bis 36. An der Leonhardsstrasse 27 steht ein weiteres Haus, das zur Parzelle gehört, derzeit aber nicht genutzt wird.
Geht es nach dem Willen der Eigentümerin, dem Versicherungskonzern Helvetia, soll die Häuserzeile einem Neubau mit Büros und Wohnungen weichen. Die Bewohner, die einem Zwischennutzungsvertrag unterstehen, haben das zusammen mit dem Mieterverband angefochten.
Jetzt liegt der Entscheid der BRK auf dem Tisch.
Dabei beanspruchen beide Parteien einen Teilsieg für sich: So halten etwa die rekurrierenden Bewohner in einer gemeinsamen Erklärung fest, dass ihnen teilweise recht gegeben worden sei. Damit sehen sie sich bestätigt, dass ihr «Widerstand gegen das Bauprojekt» nötig war. Helvetia-Sprecher Hansjörg Ryser sieht das anders: «Mit grosser Genugtuung nehmen wir zur Kenntnis, dass die BRK den Entscheid der Vorinstanz in allen wesentlichen Punkten gestützt hat.»
Die Sache mit der Wohnfläche: Helvetia bekommt recht
Dabei sind beide Versionen richtig: In drei Punkten entschied die Kommission nämlich zugunsten von Helvetia. In Sachen Wohnfläche, Denkmalschutz und Naturschutz wurden die Einwände der Rekurrenten somit abgewiesen. Bei einem vierten Punkt, der aber noch folgenreich sein könnte, bekamen jedoch die Rekurrenten recht.
Aber der Reihe nach.
Laut Wohnraumfördergesetz (WRFG) muss bei Neubauten die verlorene Wohnfläche kompensiert werden. Was deren Berechnung anbelangt, hat der Mieterverband Kritik geäussert: Maschinenräume, Parkhaus- und Liftfläche sowie der Bestandesbau würden ebenfalls dazugezählt, was die Angaben über den tatsächliche neu geschaffenen Wohnraum verzerre.
Die BRK lässt diesen Einwand nicht gelten und hält fest, dass die Berechnung auf die gesamte Parzelle und das Projekt bezogen werden müsse. Nebennutzungsflächen zur Erschliessung der Wohnungen müssten auch miteinbezogen werden. Somit kommt die Kommission zum Schluss, dass der Neubau mehr Wohnraum schafft.
Häuser werden nicht als schutzwürdig betrachtet
Auch beim Denkmal- und Stadtbildschutz beissen die Mieter auf Granit: Die BRK spricht der Häuserzeile aus dem 19. Jahrhundert die «grundsätzliche Qualität» nicht ab. Aufgrund der Güterabwägung gelangt sie aber mit der Denkmalpflege zum Schluss, dass sie nicht schutzwürdig sei. Ohnehin hätten die Gebäude an der Verkehrsachse mit Grossbauten ihren Stellenwert verloren.
Beat Leuthardt, Co-Geschäftsleiter des Mieterinnen- und Mieterverband (MV Basel) sieht es genau umgekehrt: «Gerade deswegen sollte man doch retten, was man noch hat.» Er vergleicht die Häuser mit den historischen Dampfschiffen auf Schweizer Seen: «Gerade weil sie einen Seltenheitswert haben, besteht ein grosses Interesse an jedem noch erhaltenen Exemplar», kommentiert er den Entscheid.
Beim Argument Naturschutz konnten sich die Rekurrenten auch nicht durchsetzen: Die Stadtgärtnerei betrachtet den Garten zwar als schützenswertes Naturobjekt. Gleichzeitig bemerkt sie aber, dass sich ein Schutz der bestehenden Grünfläche als unverhältnismässig erweisen würde und beim Neubau wiederhergestellt werden könne.
Bäume könnten die Pläne von Helvetia gefährden
In einem Punkt können die Mieter aber einen Erfolg verbuchen: Eventuell werden die Bäume im Garten der Bauherrschaft der Helvetia einen Strich durch die Rechnung machen. Während die Stadtgärtnerei zum Schluss kommt, dass Ersatzpflanzungen möglich seien, vertritt der Sachverständige für Baumschutz einen anderen Standpunkt.
Die Fläche, die nicht für die Tiefgarage unterkellert wird, biete zu wenig Platz für den Wurzelschlag. Daher meint die BRK, dass der Neubau von Helvetia sich «in dieser Hinsicht als nicht bewilligungspflichtig» erweise. Wolle der Bauherrr das Vorhaben weiterführen, so müsse er das Projekt entsprechend anpassen.
Genau in diesem Punkt sieht Beat Leuthardt eine Chance für die jetzigen Bewohner: «Das könnte die Pläne der Gegenseite gefährden.» Um die Ersatzpflanzungen zu garantieren, könne nämlich die Tiefgarage nicht so gross wie geplant gebaut werden. Dies hätte wiederum Folgen für den gesamten Neubau, der somit an Wohnfläche verlieren würde.
Beide Parteien wollen weiterkämpfen
Den Entscheid zu den Bäumen möchte Helvetia so nicht stehen lassen: Wie Hansjörg Ryser festhält, sei die Beanstandung der Ersatzbepflanzung nicht nachvollziehbar. Das Unternehmen werde deshalb den Entscheid der BRK in diesem Punkt anfechten.
Auch die Gegenseite will sich nicht geschlagen geben: Wie Beat Leuthardt sagt, hat der Basler Mieterverband beim Verwaltungsgericht bereits Rekurs gegen den Entscheid der BRK angemeldet. Er sieht dabei die eigentliche Idee hinter dem Wohnraumfördergesetz verletzt: «Helvetia missbraucht am Steinengraben die gesetzliche Möglichkeit, höher zu bauen für noch mehr Büroraum», sagt Leuthardt. Davon stehe aber in Basel eh schon zu viel leer. «Dass eine gerichtliche Instanz ernsthaft behauptet, Parkplätze oder ein Liftmaschinenraum seien Wohnfläche, ist schon fast surreal.»
Belässt Helvetia renovierte Altbau-Wohnungen in Brache?
Kritik am Versicherungskonzern ist auch aus dem Haus Nummer 36 zu hören. Dessen einzige Mietpartei ist einem anderen Vertrag unterstellt und hat daher nichts mit dem Baurekurs der Nachbarn zu tun. Wer das Gebäude betritt, trifft auf ein ansehnliches Innenleben: Heimelige und geräumige Altbauwohnungen, ausgestattet mit neuen Badezimmern, Küchen und Fenstern.
All dies wurde zusammen mit den Leitungen innerhalb der letzten 15 Jahre renoviert. Trotzdem herrscht im Haus weitgehend gähnende Leere. Die einzigen beiden verbliebenen Mieter in den oberen Stockwerken, Aline Burckhardt und Alexander Lexow, werden Ende November ausziehen.
Aline Burckhardt kennt das Haus von Kindesbeinen an: Sie ist hier aufgewachsen und ihr Urgrossvater lebte schon in der Liegenschaft. Ihr Vater verkaufte das Haus vor vier Jahren an das Versicherungsunternehmen Nationale Suisse, welches dann von Helvetia übernommen wurde. Die Tochter war mit diesem Entscheid nicht einverstanden, konnte aber als Mieterin bleiben.
«Wir sind keine Hausbesetzer»
Damit ist bald Schluss: Eigentlich hätten Burckhardt und Lexow schon früher die Zügelkisten packen müssen. Die beiden haben Einsprache erhoben, und als diese dann nach der Übernahme von Nationale Suisse als nichtig erklärt wurde, nahmen sie einen zweiten Anlauf. «Die Einsprache mussten wir dann zurückziehen», sagt Burckhardt. «Bei der Schlichtungsstelle wie vor dem Zivilgericht konnten wir leider nicht erreichen, dass wir bleiben können, bis eine Baubewilligung ausgesprochen wird.»
Ob das Haus nach ihrem Auszug zugemauert wird oder doch noch Nachmieter kommen – dazu möchte sich die Helvetia nicht äussern. Für die beiden Bewohner ist es jedoch unverständlich, weshalb die Eigentümerin das Haus partout leer haben möchte, wenn doch noch gar keine Baubewilligung steht.
«Wir sind keine Hausbesetzer – wir wollen einfach so lange wie möglich hier bleiben und uns um das Haus kümmern», sagt Aline Burckhardt. Eine neue Wohnung hat sie bereits, zudem möchte sie die Sache nicht mehr weiterziehen – zu nervenzerreibend sei das ganze Hin und Her gewesen.
Helvetia-Anwalt massregelt Nachbarn als «Trittbrettfahrer»
Zudem kritisiert sie, dass Helvetia versucht habe, jegliche Kritik zum Verstummen zu bringen. Der Advokat, der die Firma vertritt, ermahnte etwa Burckhardt und Lexow mit harschen Worten. Im Mai dieses Jahres warf er ihnen in einem der TagesWoche vorliegenden Brief vor, sich in «unsachgemässer Weise» gegenüber seiner Mandantin verhalten zu haben.
Der Anwalt sah es als inakzeptabel an, dass die Mieter vom Haus 36 als «Trittbrettfahrer» von Personen, die das Helvetia-Bauvorhaben «verzögern und diese damit schädigen», profitieren zu wollen.
Offensichtlich war es der Eigentümerin ein Dorn im Auge, dass sich die Mieter mit den Rekurrenten von nebenan austauschten. Aline Burckhardt sieht diese Vorwürfe als unberechtigt: «Unsere Interpretation ist eher, dass wir uns immer wieder getraut haben nachzufragen, ob wir länger bleiben dürfen.»
Sie sieht darin und in weiteren Briefen zwar keinen direkten Maulkorb, aber «dass wir mit unseren Nachbarn zusammengespannt haben, war immer inoffiziell und ist somit eine Unterstellung».
Auf diese Kritik der beiden Bewohner möchte Helvetia nicht eingehen. Wie Hansjörg Ryser festhält, wolle man die Korrespondenz mit den Mietern nicht in der Öffentlichkeit führen. «Wir betonen jedoch, dass wir zu keiner Zeit und in keiner Weise Druck auf die Mieter ausgeübt haben, weder direkt noch indirekt», sagt Ryser.
Zudem werde man die vom Neubauprojekt betroffenen Liegenschaften bis zum Baubeginn «in geeigneter Form» weiter nutzen. In welcher Art das geschehen soll, wurde jedoch nicht kommuniziert. Während die Verhandlungen von den Bewohnern der Häuser 30 bis 34 weitergezogen werden, bleibt also vorerst unklar, was mit den Wohnflächen in Nummer 36 geschehen wird.